Schlagwort: Philosophie
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Die Welt in deinen Augen. Über die Bewahrung der gemeinsamen Welt in Hannah Arendts Denken
Arendt praktizierte ein dynamisches politisches Denken. Politisch als Adjektiv bedeutet in ihrem Fall die grundsätzliche Bemühung um eine Welt, die von den in ihr Lebenden als gemeinsame wahrgenommen wird. Das Politische ist daher der geteilte Raum, der gemeinsam gestaltet wird, indem alle Anwesenden ihre Ansichten über das Wie dieser Gestaltung geltend machen können. Das institutionelle Äquivalent dieser idealtypischen Vorstellung sind für Arendt die revolutionären Räte, welche weder die Repräsentation der abwesenden Vielen noch die Summe des Mehrheitswillens sind, sondern der Rahmen für den mühsamen Findungsprozess eines gemeinsamen Wollens und Handelns. Im Hinblick auf diese Bemühung des politischen Denkens, die Welt als gemeinsamen politischen Raum zu gestalten, ist Hannah Arendts Lebenswerk erstaunlich konsequent.
Schon in ihrer Dissertation Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation prangert Arendt das christliche Liebeskonzept der caritas an, weil die so verstandene Nächstenliebe in Wahrheit Weltverlust bedeute: Der andere ist nur als Gottes Kreatur zu lieben und das irdische Leben nur als Zwischenstation in die Ewigkeit, auf dem Weg zu einercivitas dei, zu erdulden. Weder die Mitmenschen als Einzelne noch die Welt, in der man gleichzeitig präsent ist, sind hier von Bedeutung. Dem entgegen stellt Arendt amor mundi, die bewusste Liebe zu dieser Welt, die die Fragilität des menschlichen Seins und die Gefahren der gemeinschaftlichen Existenz annimmt und es ermöglicht, dass die physisch gegebene Erde zum geteilten Wohnort, zur civitas terrena, wird. In ihrer zweiten Monografie über den gescheiterten Assimilationsversuch der Jüdin Rahel Varnhagen (Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik) problematisiert Arendt nicht nur den Weltverlust der Parias, denen es versperrt bleibt, die Welt, in der sie leben, mitzugestalten, sondern auch die weltvernichtenden Auswirkungen der Gefühlskultur der Romantik. Arendt wirft der Rousseau’schen Praxis der Innengewandtheit und Empfindsamkeit bzw. des akribischen Aufzeichnens des Gefühlten vor, dass sie aus konstruierten Emotionen eine Mauer zwischen Mensch und Welt errichtet, um vor der Unberechenbarkeit der Realität zu schützen. Anstatt ein affektives Ausgesetztsein zu erleiden, so Arendt, frönen die Salons der Zeit einer Sentimentalität. Gefühle werden dabei nicht als Instanzen erlebt, die einem zustoßen und einen treffen, sondern als durch Sprachgewalt erzeugte Phänomene, um andere zu beeindrucken und um Herr über die Ereignisse in der Welt zu werden. Um zu verdrängen, dass man sich das Leben nicht selbst gibt, dass das In-der-Welt-Sein radikales Ausgeliefertsein ist, welches nach schützender Interdependenz, nach einem gemeinsam gestalteten Miteinander ruft.
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Hannah Arendt: Übergängiges zwischen Privatem und Politischem
Damit wird indirekt ein Vorurteil bedient, dem Arendt in ihrer Reaktion auf die Eingangsfrage im berühmten Fernsehinterview mit Günter Gaus (1964) zu ihrem Status als Philosophin im Kreis männlichen Philosophen (und erste in dieser Reihe portraitierte Frau überhaupt) mittelbar Vorschub geleistet hat. Vehement verwahrt sie sich zunächst dagegen, ihre Arbeiten in ‚politischer Theorie‘ mit ‚Philosophie‘ verwechselt oder gleichgesetzt zu sehen. Dieser Unterschied rangiert für sie höher als der zwischen Männern und Frauen. Als Gaus nicht locker lässt, impertinent auf die Frage der ‚Emanzipation‘ und deren Bedeutung „für Sie persönlich“ zurückkommt, wechselt Arendt die Strategie: Das Problem sei wohl immer da, habe für sie jedoch nie eine Rolle gespielt, weil sie immer gemacht hätte, was sie wollte. Aber sie fügt auf undurchsichtig schillernde Weise noch eine Bemerkung über die „fraulichen Tugenden“ hinzu, die an das Pelzjäckchen erinnert: „Es sieht nicht gut aus, wenn eine Frau Befehle erteilt …“.. Die feministische Philosophin Astrid Deuber-Mankowsky hat ohne Bezug auf dieses Beispiel (im Katalog der oben erwähnten Ausstellung) von Arendts „Politik der Desidentifikation“ gesprochen. Und damit einen wunden Punkt der feministischen Arendt-Rezeption geschickt umschifft oder auch: behutsam ummäntelt.
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»Der katastrophale Schwund an Urteilskraft…«
Oder: Warum Hannah Arendt keine Transhumanistin gewesen wäre Ein Essay von Janina Loh Ich möchte mit etwas Positivem beginnen. Nicht nur, weil es der vielleicht einzige erfreuliche, sondern auch, weil es der vermutlich wichtigste Gedanke in der folgenden weitestgehend kritisch ausfallenden Analyse der Gegenwart ist. Wie an der Hoffnung sollten wir entschlossen an ihm festhalten, […]
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Drei Fragen an Alois Prinz
DREI FRAGEN ZU HANNAH ARENDT Agave Magazin: Herr Prinz, wie erklären Sie sich die gegenwärtige Hannah Arendt-Konjunktur? Warum wird sie so viel gelesen und diskutiert? Alois Prinz: Angesichts der verwirrenden Vielfalt von Meinungen, der wir tagtäglich ausgesetzt sind, gerade in den sozialen Medien, und der Erfahrung, dass auch die Wissenschaft oft ratlos ist, ist das Bedürfnis nach […]
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Arendt
Die neue Ausgabe ist da! Arendt hat vermutlich Marx und Nietzsche als berühmteste deutsche Philosophin abgelöst: Wissenschaftlerinnen, Künstler, Politikerinnen, Autoren, Studentinnen, Zeitdiagnostiker und Kuratorinnen bergen immer neue Schätze aus ihrem Werk, das heute aktueller denn je scheint. In diesem Heft geht es um Privates und Politisches (Eva Geulen), um das Gemeinsame (Héla Hecker), Arendts Opposition […]
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Der Philosoph als Vampir
Till berichtete mir von haarsträubenden musiktheoretischen Fehlern in Adornos Jazz-Kritik. Offenbar verwechselte er grundlegende Begriffe und Schönberg wird seine Gründe gehabt haben, warum er nicht viel von ihm hielt. Adorno hat aber immer behauptet, sich nie entschieden zu haben zwischen Komposition, Musiktheorie und Philosophie und seine komplizierte Utopie (die wiederum keine sein will) sei ein […]