Autor: maikesalazar
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Die Welt in deinen Augen. Über die Bewahrung der gemeinsamen Welt in Hannah Arendts Denken
Arendt praktizierte ein dynamisches politisches Denken. Politisch als Adjektiv bedeutet in ihrem Fall die grundsätzliche Bemühung um eine Welt, die von den in ihr Lebenden als gemeinsame wahrgenommen wird. Das Politische ist daher der geteilte Raum, der gemeinsam gestaltet wird, indem alle Anwesenden ihre Ansichten über das Wie dieser Gestaltung geltend machen können. Das institutionelle Äquivalent dieser idealtypischen Vorstellung sind für Arendt die revolutionären Räte, welche weder die Repräsentation der abwesenden Vielen noch die Summe des Mehrheitswillens sind, sondern der Rahmen für den mühsamen Findungsprozess eines gemeinsamen Wollens und Handelns. Im Hinblick auf diese Bemühung des politischen Denkens, die Welt als gemeinsamen politischen Raum zu gestalten, ist Hannah Arendts Lebenswerk erstaunlich konsequent.
Schon in ihrer Dissertation Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation prangert Arendt das christliche Liebeskonzept der caritas an, weil die so verstandene Nächstenliebe in Wahrheit Weltverlust bedeute: Der andere ist nur als Gottes Kreatur zu lieben und das irdische Leben nur als Zwischenstation in die Ewigkeit, auf dem Weg zu einercivitas dei, zu erdulden. Weder die Mitmenschen als Einzelne noch die Welt, in der man gleichzeitig präsent ist, sind hier von Bedeutung. Dem entgegen stellt Arendt amor mundi, die bewusste Liebe zu dieser Welt, die die Fragilität des menschlichen Seins und die Gefahren der gemeinschaftlichen Existenz annimmt und es ermöglicht, dass die physisch gegebene Erde zum geteilten Wohnort, zur civitas terrena, wird. In ihrer zweiten Monografie über den gescheiterten Assimilationsversuch der Jüdin Rahel Varnhagen (Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik) problematisiert Arendt nicht nur den Weltverlust der Parias, denen es versperrt bleibt, die Welt, in der sie leben, mitzugestalten, sondern auch die weltvernichtenden Auswirkungen der Gefühlskultur der Romantik. Arendt wirft der Rousseau’schen Praxis der Innengewandtheit und Empfindsamkeit bzw. des akribischen Aufzeichnens des Gefühlten vor, dass sie aus konstruierten Emotionen eine Mauer zwischen Mensch und Welt errichtet, um vor der Unberechenbarkeit der Realität zu schützen. Anstatt ein affektives Ausgesetztsein zu erleiden, so Arendt, frönen die Salons der Zeit einer Sentimentalität. Gefühle werden dabei nicht als Instanzen erlebt, die einem zustoßen und einen treffen, sondern als durch Sprachgewalt erzeugte Phänomene, um andere zu beeindrucken und um Herr über die Ereignisse in der Welt zu werden. Um zu verdrängen, dass man sich das Leben nicht selbst gibt, dass das In-der-Welt-Sein radikales Ausgeliefertsein ist, welches nach schützender Interdependenz, nach einem gemeinsam gestalteten Miteinander ruft.
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Galamb Thorday
Auf den ersten Blick schwelgen Galamb Thordays Bilder im Luxus: Champagner-pyramiden, Pelzanzüge, Austernplatten und Brillanten bilden eine Welt des Überflusses in opulenten Farben. Aber da sind auch Schatten: Der Falke, der sich den Lurch schnappt (Adornos Symboltier für den spätkapitalistisch-ermatteten Menschen) und ins Jenseits verschleppt. Oder die Sphinx, das apokalyptische Tier, das den Tod in Venedig, also des Abendlandes, ankündigt. Und sind die Figuren nicht auch fragil, morbid, den Objekten ergeben, anämisch und ernst, wohlwissend, dass sie in ihrem Cabriolet aufs Ende der Welt zusteuern? Dann aber soll es noch ein letzter Rausch sein – das letzte Abendmahl, das jede allein zu sich nimmt. So gesehen kommen sie einem plötzlich gar nicht mehr so gegenwärtig vor, sondern abwesend, als wären sie schon auf dem Weg in eine andere Sphäre. Sie klammern sich an den Luxus, der als „Promise“ nur ein „Unfinished Painting“ ist. Erst am letzten Tag der Menschheit wird es fertiggestellt. Vielleicht hat Galamb Thorday, in der k.u.k.-Stadt Keszthely geboren, ein besonders feines Sensorium für untergehende Prunkkulturen und für den ewigen Frieden, der erst danach kommt.
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Drei Fragen an Alois Prinz
DREI FRAGEN ZU HANNAH ARENDT Agave Magazin: Herr Prinz, wie erklären Sie sich die gegenwärtige Hannah Arendt-Konjunktur? Warum wird sie so viel gelesen und diskutiert? Alois Prinz: Angesichts der verwirrenden Vielfalt von Meinungen, der wir tagtäglich ausgesetzt sind, gerade in den sozialen Medien, und der Erfahrung, dass auch die Wissenschaft oft ratlos ist, ist das Bedürfnis nach […]
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Arendt
Die neue Ausgabe ist da! Arendt hat vermutlich Marx und Nietzsche als berühmteste deutsche Philosophin abgelöst: Wissenschaftlerinnen, Künstler, Politikerinnen, Autoren, Studentinnen, Zeitdiagnostiker und Kuratorinnen bergen immer neue Schätze aus ihrem Werk, das heute aktueller denn je scheint. In diesem Heft geht es um Privates und Politisches (Eva Geulen), um das Gemeinsame (Héla Hecker), Arendts Opposition […]
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Lesenotiz “Kim Jiyoung, geboren 1982” von Cho Nam-Joo
Der Bestseller aus Korea erzählt von Kim Jiyoung aus der Sicht ihres Psychiaters. Mit kurzen scharfen Sätzen werden die Symptome und das Leben einer jungen Frau beschrieben, die über ihre Lebensspanne Sexismus und Frauenfeindlichkeiten ertragen musste. Ihre Persönlichkeit scheint sich in verschiedene Frauen zu spalten, die in Kim Jiyoungs Leben eine Rolle gespielt haben, welche […]
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Die eindimensionale Frau. Nina Power über einen falschen Feminismus
Wo sind all die interessanten Frauen hin?”, fragt sich Nina Power in “Die eindimensionale Frau”. Sie kritisiert darin die Aushöhlung des Feminismusbegriffs durch seine inflationäre Verwendung. Es ist lediglich gelungen, die Arbeit zu “feminisieren”, während Frauen von der Macht weiterhin ferngehalten werden. Stattdessen lastet nun ein stärkerer Druck auf ihnen, immer mehr Leistung zu erbringen […]
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The phenomenal woman (II)
Christine Battersbys Buch über feministische Metaphysik und Identitätsstrukturen beginnt mit der Definition des Wortes „phänomenal“: phenomenal: extraordinary, exceptional, prodigious, unnatural, marvellous, amazing, often used hyperbolically in reference to some object or person of extraordinary power, gifts or other quality which excites wonder. phenomenal: in philosophy, that which has the nature of a „phenomenon“ (pl.“phenomena“) and […]
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Fünf Thesen gegen Empathie in Zeiten von Corona
No Man is an Island No man is an island, Entire of itself. Each is a piece of the continent, A part of the main. If a clod be washed away by the sea, Europe is the less. As well as if a promontory were. As well as if a manner of thine own Or […]
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A Sunday Kind of Love
Sonntags mit Etta James‘ A Sunday Kind of Love aufwachen, draußen trommelt der Regen und es riecht nach Kaffee. Das Lied erschien auf ihrem Debütalbum “At Last” (1960), einem Album über die Liebe. A Sunday Kind of Love ist das Singen nach einer Liebe, die länger anhält als Samstagnacht, mehr ist als die Liebe auf […]
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Your silence will not protect you
Poetry is not a luxury. Poetry is the way we help give name to the nameless so it can be thought. Audre Lorde war überzeugt von der Macht des Wortes. Wenn wir schweigen, dann sterben wir, sagte Lorde in einem Interview. Lorde wurde am 18. Februar 1934 in New York geboren, fast blind und als […]