Der katholische Geist des Kapitalismus

Im Grunde haben wir alle, auch wenn wir sie mit dem Hinweis auf den darin steckenden Kulturalismus pflichtschuldig ablehnen, Max Webers These vom protestantischen Geist des Kapitalismus geschluckt. Wir halten Verzicht, Sparsamkeit, Disziplin, Freudlosigkeit, Arbeitseifer und individuelle Interessenverfolgung für die Motoren des Kapitalismus und wer diese Sekundärtugenden infrage stellt, darf sich schon als Kapitalismuskritikerin fühlen. 

Doch damit wiegt man sich in der trügerischen Sicherheit einer Vergangenheit, die sicher ihre protestantische Phase gehabt hat, heute aber vorbei ist. Denn inzwischen funktioniert der Kapitalismus genau andersherum und was früher Sünde gegen die Produktivität war – Verschwendung, Spontaneität, Lustbefolgung und Gemeinschaftssinn – befindet sich im Herzen der Produktionsweise, die katholisch geworden ist. 

Der Wechsel kündigte sich bereits in den 1920er Jahren als, als Walter Benjamin den „Kapitalismus als Religion“ bezeichnete. Der Protestantismus aber ist kaum noch eine Religion, darauf beruhte ja sein Erfolg, er war eher ein Regelkanon zum effizienten Raumgewinn in der Welt, die auf jedes Verweilen am Wegesrand (Lebensgenuss) oder transzendentes Ziel (im Wolkenkuckucksheim) verzichtete. Der protestantische Kapitalismus war stocknüchtern. Er bereitete die Aufklärung vor. Weber bewunderte die katholische Magie: „Die Ausschaltung der Magie als Heilsmittel war in der katholischen Frömmigkeit nicht zu den Konsequenzen durchgeführt wie in der puritanischen Religiosität.“ Heute aber, wo die Werbung Wunder verspricht (Mönche die einen Marsriegel verspeisen, bekommen Superkräfte; Axe-Deo holt die Engel vom Himmel und Red Bull verleiht Flügel), ist die Magie zurückgekehrt. Ein Produkt ist eine anbetungswürdige Reliquie, der Akt, es zu kaufen, folgt einer Liturgie, die Werbeparolen vernebeln wie Weihrauch die Sinne und in den prunkvoll hergerichteten Konsumtempeln der Innenstädte möchte man sich ganz hingeben an das Große, das über einen hereinbricht. Längst hat sich diese Sinnlichkeit über das abstrakte Rechenkalkül der sparsamen Protestanten gelegt und den Kapitalismus von einer Angelegenheit der Logik in eine der ekstatischen Erfahrung, von der Abstraktion ins Konkrete und Überschießende verwandelt. 

Damit sickert nur in die Konsumalltagswelt durch, was an den volkswirtschaftlichen Schalthebeln schon länger als Steuerungsidee wirkte. Als man noch meinte, nicht viel tun zu können, sprach man vom Zauber einer „unsichtbaren Hand des Marktes“ oder von apokalyptischen Unheimlichkeiten wie der „schöpferischen Zerstörung“, auf die man nur hoffen konnte. Später dann, das begann im Ersten Weltkrieg und gipfelte in New Deal und Keynesianismus, wurden Magier eingesetzt, um die Naturgewalten in eine Richtung zu lenken. Man entdeckte den Konsum, also die Völlerei, die unbedingt angekurbelt werden musste; von Sparsamkeit war da nicht mehr die Rede. Später, in den 90er Jahren, eroberte die Verschwendungs- und Feiersucht die oberen Etagen des Finanzkapitalismus, als wäre das Leben eine ewiger Karneval mit Koks. Strenge Puritaner wirkten da wie von gestern. 

Aber auch eine Stufe drunter hatte sich etwas verschoben: Man arbeitete jetzt in superkommunikativen Teams, nicht mehr hierarchisch, mit Stechuhr im Akkord, sondern unter Freunden, entspannt, kreativ und empathisch. Ein solches Arbeiten hatte nicht mehr viel mit Enthaltsamkeit, Affektkontrolle und Disziplin des Individualmalochers zu tun, sondern stützte ein Regime, das möglichst viele positive Emotionen teilen und ausbeuten will und sich letztlich der Produktion des Genusses verschrieben hat – auch über das eigene Team hinaus, denn am besten war man mit der ganzen Welt vernetzt, was protestantischen Einzelgängern suspekt sein musste. Das World Wide Web der 90er und 0er, die soziale Netzwerk- und Plattformökonomie der 10er und das sich abzeichnende Internet der Dinge der 20er Jahre treiben ihn weiter in die Ecke, aus der er, wenn es tatsächlich eine technologische Singularität geben sollte, deren Prophet der Jesuit Pierre Teilhard de Chardin ist, nicht mehr herauskommt. 

Emsige Protestanten werden vielleicht bald gar nichts mehr zu tun haben und in jenes katholische Schlaraffenland gezwungen, aus dem sie einst ausgebrochen sind, was sie verdrießlich stimmen dürfte. Schon heute macht sie die Freizeitlosung, man solle sich glücklich kaufen, sicher skeptisch. Ihr Protestantismus ist ins Hintertreffen geraten, der Katholizismus die passendere Religion zum Spätkapitalismus. 

Und zwar bis ins Spendenaufkommen hinein. Der Historiker Gangolf Hübinger schreibt über die frühkapitalistische Formierungsphase: „Puritaner wollen ablesen können am wirtschaftlichen Erfolg, auf welcher Stufe des Heils sie stehen. Während ein Katholik sich ganz anders verhält. Er tut gute Werke: Er spendet, er opfert, er gibt den Zehnten.“ Doch die freiwillige Abgabe gerät längst nicht mehr in einen Gegensatz zum schatzbildenden Kaufmann, eher trägt sie zu seiner Vervollkommnung bei. Es ist ja so, dass die besonders Reichen ihre Milliarden in Projekte zur Rettung (Bill Gates), Erziehung (George Soros) oder Beträumung (Elon Musk) der Menschheit pumpen. Sie errichten einen Spendenkapitalismus, der aus Charity, Traumfabriken, Mäzenatentum, Steuerflucht und ideologischer Indoktrination besteht. Was manche als sanfte Überwindung des Kapitalismus feiern (Sloterdijks „Revolution der gebenden Hand“), ist nur der Eintritt in seine katholische Phase. In ihr verbindet sich die vorkapitalistische Rentenökonomie mit dem hochkapitalistischen Profitmotiv, also der Adel mit dem Bürgertum, die Marktmonarchie mit der -demokratie. So vegetiert am Ende alles vor sich hin; die Legitimität ist nicht mehr fraglich, denn die Krisen wurden abgemildert und Milliardäre tun Gutes und reden darüber. Es mag einmal eine protestantische Initialzündung gegeben haben, aber in seinem höchsten Stadium wird der Kapitalismus katholisch.

Das gilt auch geopolitisch, denn die Globalisierung mit Aussicht auf einen Weltstaat ähnelt dem katholischen Universalreich von Papst und Kaiser, gegen das die Protestanten im 16. und 17. Jahrhundert ihre Kriege führten, um ungestört ihre Partialstaaten errichten zu können. Heute gehören gerade die protestantischen Nationen des Westens zu den eifrigsten Herbeizauberern dieses Universalreichs (sie übernehmen die politische Weltführerschaft, stellen die ökonomische Globalisierungsavantgarde und haben Jürgen Habermas). So nimmt der zweite (1914-1945) die Ergebnisse des ersten Dreißigjährigen Krieges (das Prinzip der Staatensouveränität von 1648) durch Bestätigung zurück und verhilft den katholischen Vereinheitlichern zu einem späten Sieg, nach dem es zunächst nicht aussah: Aus den katholischen Urgründen der europäischen Expansion (Spanien, Portugal und der Vertrag von Tordesillas zur Aufteilung und Vereinheitlichung der Welt) stiegen nach 1648 die protestantisch-kapitalistischen Kernmächte (Niederlande, England, Deutschland, USA) empor. Diese aber stellen am Ende ihrer Vorherrschaft jenes katholische Universalreich her, gegen das sie einst angetreten waren. Wenn die Globalisierung abgeschlossen ist, hat der Papst gewonnen. Er darf dann einen Weltkaiser einsetzen, den Nachfolger und Vollender Napoleons (der übrigens auch eine künstliche Intelligenz sein kann).

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