Philosophie, die sich ihren Gegenstand so groß wählt, dass sie ihn nur abstrakt behandeln kann, wird klein. Das passiert ihr aber auch dort, wo sie sich in Detailfragen verliert und nicht zum Wesen vorstößt, also mit müder, anspruchsloser Geste Erbsen zählt. Und dann gibt es Fälle, in denen ein kleiner Gegenstand mit so großer Sorgfalt behandelt wird, dass dabei eine neue Deutung entsteht. Zu ihnen gehört Béla Hamvas‘ „Philosophie des Weins“, mit der er nicht weniger beansprucht, als „ein Fundament für alle künftigen Philosophien zu legen. Wie Kant“ (12). Große Geste, kleine Sache – aus dieser Mischung sind neue Geschichtsentwürfe gemacht. Hamvas stellt seinen eigenen auf die Grundlage des Mundes, dem wichtigsten Erkenntniswerkzeug: „[I]ch weiß erst dann, was es ist, wenn ich es geschmeckt habe. Der Mund ist die Quelle unmittelbarer Erfahrung“ (17).
Besonders charakterformend, so Hamvas, wirken die Getränke, die die Seele nähren, während das Essen den Körper bildet. Wenn man also herausfinden will, wie jemand drauf ist, muss man fragen, was er trinkt. Hamvas unterscheidet zwischen „Weinvölkern“ und „Schnapsvölkern“ (51). Die Weinvölker sind genussfähig, genialisch, musisch und selbst wenn sie vor Trunkenheit torkeln, sind ihre Bewegungen noch immer rhythmisch und rund. Sie leben in schöner Selbstbezogenheit und sind auf der Suche nach dem Ewigwahren des „Goldenen Zeitalters“ (23). Sie leben also zyklisch und haben „keinen weltgeschichtlichen Ehrgeiz; sie haben sich nicht in den Kopf gesetzt, sie müßten die übrigen Völker erlösen, wenn nötig, mit dem Gewehrkolben. Der Wein bewahrt sie vor der Abstraktion.“ (51) Im scharfen Gegensatz zu ihnen stehen die Schnapsvölker. Sie sind pedantisch, verbissen abstrakt und linear. Ihr Trunkenheitstaumel verrät ihr Wesen: Während der Weintrinker unablässig „kreist“, bricht „der Schnapstrinker […] immer wieder aus, dann sinkt er in sich zusammen, bis er wie vor den Kopf geschlagen umfällt. Das eine ist ein parabolisch strudelnder Tanz, das andere eine kantige und abgehackte Bewegung“ (88f.).
Genauso scharf und unförmig wie sie sich im Rausch bewegen, ziehen die Schnapsvölker durch die Geschichte, der sie ihre „barbarische“ (90) Strenge aufdrücken wollen. Ihr „Atheismus“ (für Hamvas die Folge ihre Unglaubens, dass die Welt bereits zum Genuss eingerichtet ist) treibt sie zur Götzenanbetung und über sich selbst hinaus. Im Grunde sind sie „Puritaner“ (28) , die sich, vom Verzicht irre geworden, ihre Kompensation im abtötenden Schnapsrausch nach innen und in der Herrschaft nach außen suchen. Dass es bei all ihren Erfolgen – für Hamvas haben sie längst „Weltherrschaft […] errungen“ (7) – noch immer Weintrinker gibt, die sich ihrem Zugriff entziehen und weiterhin schlemmen, macht sie rasend. Aus lauter Verzweiflung bekommen sie Welteroberungsfantasien.
Hamvas nennt auch Namen. Zu den „großen Weinvölker[n]“ zählt er die „Griechen, die Dalmatier, die Spanier, die Franzosen, die Etrusker, in den wahren Weinbaugebieten die Italiener, die Franzosen und die Ungarn“ (51). Alle übrigen Europäer, die anderen zieht Hamvas gar nicht in Betracht, sind Schnapsvölker. Auf Bier geht er nicht ein; er scheint es sich als Erfrischungsgetränk der Schnapsvölker vorzustellen.
Damit haben wir nun alle Zutaten, um die neuere Weltgeschichte zu lesen, die bekanntlich von der Herausbildung eines kapitalistischen Weltsystems angetrieben und von Versuchen durchkreuzt wird, es durch ein Weltreich zu überwölben. Bei Carl Schmitt, der sich an der geophilosophischen Unterscheidung zwischen Land und Meer versucht hat, decken sich die Ländertypen noch mit den beiden Grundrichtungen: Meeresländer arbeiten dem Weltsystem zu, Landländer stellen es infrage. Meeresländer gehen aufs Ganze, Landländer aufs Partikulare, sodass die Weltsystemiker zu den eigentlichen Imperialisten werden und Unordnung schaffen. Sie folgen dem Geld, während sich die Landländer um Staaten und andere Ordnungsentwürfe kümmern. Schmitt kehrt also lediglich die liberale Formel des Westens um, sodass System und Imperium zusammenfallen.
Nun kommt aber Hamvas‘ Unterscheidung zwischen Wein- und Schnapsvölkern ins Spiel, die quer verläuft zur Einteilung in Land und Meer, Staat und Geld, konkrete Ordnung und abstraktes System. Es gibt nämlich Extremisten, Übertreiberinnen und Halunken auf beiden Seiten, eben die Schnapsmächte, während die Weintrinker moderater auftreten. Zu den weltsystemischen Weinmächten zählen etwa Portugal oder die Republik Venedig. Weltsystemische Schnapsmächte sind dagegen die Niederlande, England und die USA. Ihnen stehen weltimperiale Wein- (Frankreich, Spanien) und Schnapsländer (Deutschland, Russland) gegenüber. Die trübsten Herrschaften, so Hamvas, haben die Schnapsmächte installiert.
Wie aber kommt es, dass die hartnäckigsten Welteroberer aus Weinregionen kamen – Napoleon von Korsika, Stalin aus Georgien und Hitler aus Österreich? Im Fall Frankreichs kommt die Seltsamkeit hinzu, dass dort vor allem Wein getrunken wurde, was den Menschen doch eigentlich die Verbissenheit hätte nehmen müssen. Erklären können wir sie, wenn wir den Schnaps als Metapher lesen. Denn die Verschnapsung Frankreichs kam auf ungewöhnliche Weise, nicht mit der Tradition, sondern durch die Revolution und hinterließ geistige Spuren. Napoleon reüssierte in einem Weinland, das kurz zuvor auf bürgerlich-puritanische Grundlage gestellt wurde und sich seither „in übertriebener Aktivität“ (7) befand. Er aber kam aus der Peripherie, wo die asketischen Ideale noch nicht galten. Dadurch behielt er sich seine Zauberkraft, die den Staat verhexen konnte (denn ein Genießer kann etwas sehr Suggestives haben). Sein Geist lieferte der Staatsmaschine das Öl, die dadurch wie am Schnürchen lief und Europa erobern konnte. Doch Frankreich trug noch immer die Weintradition in sich. Sie bewahrte, zusammen mit der nur gering entwickelten Technik, das Land vor den schlimmsten Exzessen.
Das sollte sich im folgenden Jahrhundert mit Stalin und Hitler ändern, auch weil die Zusammensetzung eine andere war: Menschen aus Weingegenden an der Spitze eines Schnapslandes, das ergibt eine explosive Mischung: Verführungskunst und Enthusiasmus setzen sich an die Spitze einer zuverlässig arbeitenden Schnapsmaschine. Einen solchen Energiestaat kann kaum jemand aufhalten, nicht einmal dieser selbst (Erst recht nicht, wenn sich der Führer dieses Staates etwas darauf einbildet, gar nicht zu trinken. Für Hamvas ist der Asket ein radikalisierter Schnapstrinker. Er genießt noch weniger, das macht ihn aggressiver.). Deshalb entstanden dort totalitäre Systeme, die, als klar war, dass die Welteroberung misslang, ihren Ausgleich in der Vernichtung suchten, während das Weinland Frankreich nach dem Scheitern der napoleonischen Eroberungszüge die Sache gut sein ließ. Weintrinker wissen, wann Schluss ist.
Der Schnapstrinker dagegen kennt kein Maß, nicht einmal sich selbst gegenüber. Das gilt nicht nur im Krieg, sondern auch für die Eroberung der Märkte. Für sie hält er sich fit, verzichtet auf Genuss und klotzt richtig ran. Das Weltsystem belohnt ihn mit fetter Beute, die er reinvestiert. Tagsüber nimmt er sich zurück und nachts trinkt er heimlich Schnaps oder, schlimmer noch, gar nichts. Max Webers protestantischer Geist des Kapitalismus ist eigentlich ein Schnapsgeist. Er bildet die Gemeinsamkeit der Welteroberung durch Kapital und Truppen. Ihre aufgestaute Lust lassen die einen im Kampf heraus, die anderen im Konsum. Letzteres treibt das Weltsystem an und ist deshalb langfristig erfolgreicher.
Damit gibt Hamvas einen versteckten Kommentar zur geopolitischen Lage: Das gesamte 20. Jahrhundert war von Schnapsmächten bestimmt. Zunächst rebellierten die Deutschen gegen das englische, anschließend gegen das amerikanische Weltsystem, um nach der Weltherrschaft zu greifen. Im Kalten Krieg standen sich dann USA und Sowjetunion, also Whisky und Wodka, gegenüber. Das Weinland Ungarn, Hamvas‘ Idylle, war Spielball dieser Mächte, weshalb er einen Groll gegen sie hegte.
Die Schnapsländer mögen die Geschichte unter sich ausmachen. Aber ihren Subjektstatus erkaufen sie sich mit Unglück, das sie an den eroberten Weinvölkern auslassen. Die aber lassen sich nicht unterkriegen, denn sie haben ja noch ihren Wein oder – wenn man wie Hamvas, als er das Buch 1947 schrieb, kaltgestellt und vom Weinzugang abgeschnitten ist – zumindest noch die Erinnerung daran. Von ihr lebt ohnehin jeder Schluck, der das Goldene Zeitalter in die Gegenwart holt. Der Wein ist das Getränk der Verlierer. Sie stehen aber in Verbindung mit dem Messias, der am Ende der Zeiten alles wieder so gerade rücken wird, dass sie als die eigentlichen Gewinner dastehen. Denn die „Weltgeschichte wird enden, wenn aus den Quellen und Brunnen Wein fließt, wenn es aus den Wolken Wein regnet, wenn die Seen und Meere zu Wein werden.“ (14) Das wäre die sanfte Wiederholung der Sintflut, die ihr das Katastrophische nimmt.
Béla Hamvas: Philosophie des Weins [1947], Grafing b. München 1999.
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