Zwischen Trümmern und Visionen.

Trümmerberge, Bauskelette, Einschusslöcher… Mittendrin ein Banner mit Assad, winkend und lächelnd: „Zusammen werden wir es wieder aufbauen“. Ein absurder Kontrast. Syrien befindet sich seit 2011 im Bürgerkrieg. Ausgelöst durch Proteste des Arabischen Frühlings, ist das Land in einen unübersichtlichen Guerillakrieg gestürzt, in dem die Fronten immer unklarer werden. So unübersichtlich das Kriegsgeschehen, so offenkundig sind die Leidtragenden des Konflikts: 11,6 Mio. Syrer*innen waren im Jahr 2015 auf der Flucht. 

Städte sind heute die Hauptschauplätze für Konflikte. Konflikte, in denen das soziale, physische und kulturelle Geflecht der Stadt vernichtet und die Identität der dortigen Bewohner zerrüttet wird. Mit der Eroberung der letzten Hochburg des IS kommt die Frage auf, wie sich das Land und seine Städte nach dem Bürgerkrieg wieder aufbauen. Homs, die drittgrößte Stadt im Westen Syriens, wurde im Laufe des seit 2011 anhaltenden Bürgerkrieges zu 50% zerstört. Jetzt steht die Stadt vor der Aufgabe des Wiederaufbaus und damit auch vor der Frage, welche Strategie zur Wiederrichtung verfolgt wird. Während rückkehrende Bewohner anfangen, ihre ehemaligen Wohnhäuser in Eigeninitiative zu restaurieren, gibt die Regierung Assad andere Töne vor. Schon 2007, vor dem Krieg, entstand der Entwurf von „Homs dream“, welcher vorschlägt, das Stadtzentrum von Homs abzureißen und durch moderne Hochhäuser zu ersetzen. Ganz nach dem Geschmack Corbusiers mit seinem rationalen „plan voisin“. Wie einst die Pariser Bevölkerung rebellierten auch die Homser*innen gegen die Zerstörung ihrer Stadt. Seit 2018 jedoch ist das Projekt in trockenen Tüchern. Die Protestrufe sind verstummt. Die ausgewählten Stadtgebiete stehen seit dem Bürgerkrieg leer. 

Der Grund: nur wenige Menschen sind in ihre Wohnungen zurückgekehrt. So wenig das Großprojekt von der örtlichen Bevölkerung unterstützt wird, so stark findet es die Zustimmung bei ausländischen Investoren. Masterplanungen und die enge Zusammenarbeit zwischen der Regierung und privaten Unternehmen in Form von Public-Private-Partnerships lösen das ehemalige soziale und kulturelle Geflecht der Stadt auf und lassen neuen Boden für Spekulation und Gentrifizierung entstehen. Einen weiteren Schachzug der Assad-Regierung bildet das Dekret 66, welches die Zerstörung informeller Siedlungen genehmigt und damit auch vor der Entrechtung der dortigen Bewohner keinen Halt macht. Von angemessenen Entschädigungen können die Entrechteten nur träumen.

Die syrischen Architekt*innen Hani Fakhani und Sawsan Abou Zainedin sprechen in diesem Kontext von „social cleansing“, sozialer Säuberung. In einem Interview mit dem „New Internationalist“ erklären sie, dass informelle Siedlungen nicht mit indischen Slums vergleichbar sind. Es sind Siedlungen, bestehend aus Betonhäusern, die ohne Genehmigung auf öffentlichem oder privatem Land errichtet werden. So werden meist sunnitische Nachbarschaften dem Erdboden gleichgemacht, während alawitische Siedlungen, also regimeloyale Gebiete, verschont bleiben. Die Strategie, die von der Assad-Regierung verfolgt wird, lässt klar erkennen, dass sich der Wiederaufbau nicht an den Nöten der Bevölkerung, sondern an den wirtschaftlichen Interessen der Assad-Regierung und ihrer Befürworter orientiert. Die Folgen sind drastisch.

Die Modernisierung alter Stadtstrukturen, etwa durch „Homs dream“, führt zu einer Destabilisierung der kollektiven Identität. Räume, die sich die örtliche Bevölkerung über Jahrzehnte angeeignet hat, werden durch kapitalistisch orientierte Masterpläne ignoriert und überplant. Mit der Folge, dass die räumlichen und kulturellen Ungleichheiten immer weiter anwachsen, was wiederum zu einer Destabilisierung und einem zweiten arabischen Frühling führen könnte.

Der aus Homs stammende Architekt Ammar Azzous stellt drei zentrale Thesen für den Wiederaufbau seiner Heimatstadt auf, die bei der Planung beachtet werden müssen. Er verdeutlicht die Wichtigkeit, örtliche Gemeinschaften in den Planungsprozess einzubinden, lokale Traditionen in der städtebaulichen Planung zu beachten und die Erinnerungskultur an die Schrecken des Bürgerkrieges in Form architektonischer Mahnmäler zu stärken. 

Die Partizipation der ortsansässigen Bevölkerung ist ein essentieller Bestandteil der städtebaulichen Planung und unabdingbar für ein widerstandsfähiges Stadtsystem. Es herrscht eine Interdependenz zwischen Planern und den Menschen vor Ort. Ohne das Ortswissen können wichtige identitätsstiftende Strukturen übersehen und überplant werden. Es braucht jedoch auch die vermittelnde Rolle der Architekt*innen und Planer*innen, um die Machbarkeit zu prüfen und sozio-ökonomische stadtplanerische Parameter einzubeziehen. 

Der Respekt vor lokalen Traditionen ist eng verbunden mit dem Schritt der Partizipation. Ohne das Wissen der Bevölkerung kann das ehemalige soziale und kulturelle Geflecht im Stadtgefüge nicht restauriert und nachhaltig stabilisiert werden. Ein Negativbeispiel für die Missachtung ebendieser Traditionen ist Beirut im Libanon. Das Stadtzentrum wurde im Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 teilzerstört. Nach dem Tabula-rasa-Prinzip wurde ohne die Beteiligung der Beiruter Bevölkerung das Zentrum mittels Public Private Partnerships postmodern wiederaufgebaut. Die Bewohner*innen beschreiben die „Schäden“, die durch den Neuaufbau entstanden sind, als kriegsähnlich. Viele Beiruter*innen können sich nicht mehr mit ihrer eigenen Stadt identifizieren. 

Es fehlt an sozialer Inklusion, da das gentrifizierte Zentrum vollkommen überteuert ist. „Die Stadt so schnell wiederaufzubauen, war ein Fehler“ kritisiert Mona Harb, Professorin für Stadtplanung an der American University of Beirut. Die Stadt sollte vielmehr als ein ergebnisoffenes System betrachtet werden, welches informelle Räume zur Aneignung der dortigen Bewohner und ihrer Traditionen berücksichtigt. Die amerikanische Urbanistin Jane Jacobs kritisiert die reine Funktionalität eines Stadtsystems, wie sie von ihren Zeitgenossen Robert Moses oder Le Corbusier idealisiert wurde. Masterpläne lassen, ihrer Ansicht nach, keinen Raum für gemeinschaftliches informelles Miteinander. 

Praktisch bedeutet das für die Stadtplanung, demokratische Räume zu schaffen, welche Möglichkeiten der Interaktion und Inklusion bieten, die in ihrer Entwicklung jedoch keineswegs abgeschlossen sind. Eine Stadt wächst kulturell über Jahrzehnte und Jahrhunderte. An dem Scheidepunkt der Wiedererrichtung einer kriegszerstörten Stadt sollte dieser Offenheit des Stadtsystems höchste Priorität beigemessen werden. 

Die letzte Lektion Azzous widmet sich dem räumlichen Gedenken an den Konflikt. Stadträume sind neben ihrer rein funktionalen Komponente auch assoziativ. Menschen verknüpfen auf einer mentalen Karte die Räume der Stadt mit ihrer individuellen Wahrnehmung und ihren Gefühlen. Die Zerstörung von Architektur ist somit auch mit einem tiefen emotionalen Verlust verbunden. Es ist deshalb wichtig, Orte des Erinnerns zu schaffen, die das alte Stadtbild nicht überprägen, sondern Zwischenräume bleiben, um auch die zukünftigen Generationen an die Gefahren und die Verluste des Krieges zu mahnen. Die Stadt muss als Palimpsest gedacht werden, als ein Raum, der immer wieder überschrieben wird, jedoch seine historische Schichtung behält. 

Verschiedene Organisationen und Einzelpersonen beschäftigen sich jetzt schon unabhängig von der Regierung mit der Stärkung der kollektiven Identität lokaler Gemeinden und dem Erhalt des architektonischen Erbes. Viele geflohene Menschen, die in ihre Heimatstädte zurückkehren, beginnen ihre zerstörten Wohnungen und gemeinschaftlichen Orte wie Marktplätze wieder herzurichten. Organisationen wie das „Aleppo Project“ dokumentieren informelle Orte, die auf keiner Karte zu finden sind, wie zum Beispiel einen Kreisverkehr, an dem Gemüsehändler einst ihre Ware verkauften oder Passagen, in denen es Läden für Computerbedarf gab. Architekten und Ingenieure kartieren Schäden an zerstörten Gebäuden, um deren Wiederaufbau zu beschleunigen. Wie Azzous schon erwähnte, sollte die lokale Politik dieses informelle Wissen in eine inklusive Masterplanung involvieren, um den vertriebenen Menschen einen Ort des Wiederankommens zu bieten.

Nicht zuletzt ist es auch die Aufgabe der internationalen Gemeinschaft, lokale Projekte finanziell zu unterstützen und nicht auf eine „befriedigende“ (Ursula von der Leyen) Lösung des Konflikts zu warten. Diese gibt es nicht in einem asymmetrischen Krieg.

Joel Schülin ist Architekt und lebt in Leipzig.

Literaturverzeichnis

Perrone, Alessio (2019, 26. November): New Internationalist. URL: https://newint.org/features/2019/10/16/syria-hani-fakhani-and-sawsan-abou-zainedin [11.05.2020].

Breuer, Theresa (2015, 23. Mai): Welt. URL: https://www.welt.de/wirtschaft/article141386451/Das-Paris-des-Nahen-Ostens-stirbt-am-Luxuswahn.html [03.04.2020]. 

Azzous, Ammar (2017, 17. März): The Conversation. URL: https://theconversation.com/rebuilding-homs-how-to-resurrect-a-city-after-years-of-conflict-74629 [17.05.2020].

Azzous, Ammar (2019, 10. Dezember): Urbanet. URL: https://www.urbanet.info/my-city-in-crisis-the-struggle-to-reconstruct/ [09.04.2020].

Sennett, Richard (2018). Die offene Stadt (1. Aufl.). Berlin, Deutschland: Hanser Verlag.

Daher, Joseph; Yazigi, Jihad; Said, Salam; Shaar, Alhakam (2018, Dezember): adoptrevolution. URL: https://adoptrevolution.org/publikationen/risiken-und-nebenwirkungen-der-wiederaufbau-syriens/ [21.05.2020]

Hodali, Diana (2019, 9. Januar): Qantara. URL: https://de.qantara.de/inhalt/b%C3%BCrgerkrieg-in-syrien-wiederaufbau-eines-zerst%C3%B6rten-landes?nopaging=1 [17.05.2020]

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