Notizen zu Korsika (2018)

20. Juni, Bastia

herb und schroff

Korsika ist eine seltsame, knorrige, störrische Insel. Schon der Name klingt nach etwas Herbem, Schroffem. Obwohl es im Süden liegt, hat es nichts Süßes oder Liebliches. Man denkt ja eher an kantige Berge und steile Küstenfelsen, scharfen Pastis und den unangenehmen Napoleon, weiterhin: Kastanien, Wildschwein und Schafe. Selbst der Honig ist dunkel und herb.

Woran mag das liegen? Korsika ist ein Zwischenland: zwischen Frankreich und Italien, Europa und Afrika, Alpen und Mittelmeer gelegen (ein Gebirge im Meer, sagte, glaube ich, Maupassant), hat es sich niemals entscheiden können und war charakterlich stets zerrissen, immer in Unruhe und niemals fügsam. Vielleicht hat die dauerhafte Zwischenexistenz dazu geführt, dass sich ihre Formen noch nicht abgeschliffen haben, dass sich keine eindeutige Identität ausbilden konnte, weil zu viele widerstreitende Kräfte an ihr gezerrt haben. So widersetzt sich die Insel der einsortierbaren Glätte und bezieht gerade daraus ihre knarzige Schönheit, borstig wie Wildschweinfell.

22. Juni, Calvi

korsische Schwellenfiguren

Calvi ist der Ort, der (neben zehn bis zwölf anderen) für sich beansprucht, die Heimat von Christoph Kolumbus zu sein. In Calvi gibt es natürlich auch ein Kolumbus-Haus, das dem Besucher diese Sache klarmachen soll. Nur ein paar Straßen weiter erinnert ein Haus an Napoleon, der hier einen Onkel hatte, bei dem er eine Zeit lang wohnte. Schließen wir uns dieser Lesart einmal an und bedenken die Folgen: Zwei der wichtigsten Gestalten der europäischen Neuzeit, zwei Schwellenfiguren, waren Korsen. Der eine öffnete Europa so weit, dass es in die Welt ausströmte, der andere straffte und formte es und unterwarf es dem Diktat der Gleichheit. Der eine nahm Grenzen nach außen weg, der andere drängte innere Grenzen des Individuums zurück, das jetzt ganz der Gesellschaft gehörte (und fit für die Moderne gemacht werden sollte). Der eine europäisierte die Welt, der andere wollte jeden Europäer dazu zwingen, sich mit der Sache der Welt zu identifizieren. So wurden globale Raumeroberung und -durchdringung von zwei Korsen angestoßen. Vielleicht müssen wir also, wenn wir die nächste Etappe der Geschichte begreifen wollen, nach einem Korsen mit Ambitionen Ausschau halten, der sie einleitet.

Dies fügt sich ein in Überlegungen zur Bedeutung Italiens als Laboratorium politischer Ordnungsmodelle, die der italienische Philosoph Damiano Cantone vor einigen Wochen in der Neuen Zürcher Zeitung angestellt hat: Römische Republik und Prinzipat, Imperium, Theokratie, oberitalienische Stadtrepublik und Faschismus, Berlusconi als Vorwegnahme Trumps und Salvini/di Maio als Vorreiter eines postpolitisch-autoritären Rollbacks der europäischen Kernstaaten. Vieles, was neu ist und sich anderswo bald durchsetzt, ist im italienischen Politlabor entwickelt worden. Die Ära des starken Mannes könnte also bereits vorbei sein, denn in Italien gibt es schon das nächste marktreife Produkt, das für den Export bereitsteht: digitale Akklamation, Identitätsdemokratie, die keinen Repräsentanten mehr zulässt.

Wir müssen jedoch die franko-italienische Insel Korsika hinzunehmen, um wirklich alle Umbrüche erfassen zu können, auch die der Expansion und Intensivierung der italienischen Politprodukte. Im 18. Jahrhundert gab sich Korsika die erste republikanische Verfassung der Neuzeit, noch vor Polen, Frankreich und den USA, womit es als Experimentierfeld für den späteren Bruch in Frankreich diente. Wichtiger noch ist die Rolle der beiden großen Korsen Kolumbus und Napoleon, die jeweils im Dienste einer fremden Macht standen und für diese die Welt aufschlossen. Korsen in der Fremde sind zu einigem imstande; die Insel ist ein Zwischenland, ein Sprungbrett, das Italiens Erzeugnisse in die westromanische Welt bringt und von dort aus auf der ganzen Welt verteilt.

25. Juni, Belgodère

Mutter Heimat oder Alkibiades?

Die Umrisse Korsikas ähneln dem Kopf der Wolgograder Mutter-Heimat-Statue. Den Blick nach vorn gerichtet, der Wind zerzaust das Haar. Es gibt aber auch eine Ähnlichkeit mit dem Profil des Alkibiades, der den schönen Kopf ein wenig zur Seite neigt. Mutter Heimat oder Alkibiades? – Kriegerin in jedem Fall, aber Heldin oder Schönling, es ist nicht ganz eindeutig, was die Insel nun ist. Das fragt sich auch der Kopf auf der korsischen Flagge und blickt ihr forschend in die Augen. Er wird das Rätsel aber wohl niemals ganz auflösen können und sich mit der Erkenntnis begnügen müssen, dass die „Île de la beauté“ zugleich jene war, auf der die Résistance begann. Ihren großen vaterländischen Krieg führte sie im Namen der Schönheit. Steht auch die autonomistische Résistance gegen die Kolonisierung durch Festlandfranzosen und Touristen in dieser Tradition? Korsika als melancholisches Partisanennest, in dem sich die vom Weltgeist Abtrünnigen verschanzen? Dessen größte Antreiber (Kolumbus und Napoleon) kommen allerdings auch von hier.

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