Das geheime Leipzig. Zum Ursprung des Agave-Magazins.

In den späten Zehnerjahren gab es in Leipzig einen Donnerstagssalon. Darin herrschte der unbeschwerte Geist einer ausklingenden Epoche. Die Wirtschaft boomte, Leipzig wuchs, die Geschichte schien nur noch quantitative Minimalfortschritte auf dem Weg zur Welteinheit zu kennen, sodass man ohnehin nicht viel tun konnte und sich dem Spiel als der adäquaten Form einer politisch-philosophischen Existenz zuwandte. Welt und Salon waren in das zarte Licht der 20-Uhr-Abendsonne getaucht und sobald die unterging, gab es einen Vortrag – zum Beispiel über Beschleunigungsdiagnosen oder über die Koto (ein japanisches Saiteninstrument); einmal wurden verschiedene Düfte vorgeführt und im Anschluss durfte stets gescherzt werden.

Beherrscht wurde der Salon von einer gewaltigen Agave, die in der Ecke stand und ihre Blätter nach den Habitués auszustrecken schien, sie in Wahrheit aber nur anstachelte, ihnen die Fäden zum Gedankenspinnen lieferte und den Stoff für leckeren Mezcal bereitstellte (meistens wurde aber Prosecco getrunken). Ihre Stacheln standen für die Pointen, mit denen die Habitués um sich warfen, die Tatsache, dass sie nur ein Mal blüht, für das Flüchtige der Gedanken, die durch den Raum schwirrten, ihr Name für die glitzernde Pracht der Veranstaltung. Der Salon war ein lebender Essay, eine Deutungs- und Glanzgemeinschaft, in der man auf verschiedene Weisen brillieren konnte: Eine scharfsinnige Analyse zählte genauso viel wie ein gewitztes Bonmot, eine geistreiche Bemerkung nicht mehr als ein elegantes Abendkleid oder das richtige Einstecktuch.

Während der George-Kreis das geheime Deutschland bekanntlich im wuchtigen Dreiklang aus „Schönheit – Adel – Größe“ suchte, entstand im Salon ein spätes Gegenbild in milderen Farben: Zartheit – Eleganz – Spiel – Deutung und Genuss umkreisten das geheime Leipzig. Es war so geheim, dass niemand im Salon etwas davon wusste oder es beschwören musste, aber es war stets anwesend und sollte sich bald zeigen.

Denn jetzt, wo es plötzlich um Ausnahmezustand, Krise, Kommunismus, Polizeistaat, Bürgerkrieg und Umwälzungen in der Weltordnung, also um die Revolution geht, stellt sich heraus, dass die unschuldigen Spielereien des Salons etwas sehr Ernstes gewesen waren. Sie enthielten eine nichtutopische Utopie, die den anstehenden Negationskämpfen etwas Positives hinzufügen, ohne ein Programm zu haben (Das ist eine gute Mischung, denn man will ja weder fettige Utopien haben, die wie frittiertes Zeugs schmecken, noch deren Abwesenheit hinnehmen, weil das nach gar nichts schmeckt). Der Wunsch nach zarter Formgebung im Formbruch entsprang dem Verdacht, dass man, wenn man eine schönere Welt haben will, nicht reden, schreiben und auftreten kann, als wollte man sie verschandeln. Ein Recht auf schlechten Stil, das war im Salon allen klar, hat nur der Teufel.

Zur revolutionären Situation (positiver Zug) kam obendrein das Kontaktverbot (negativer Druck), sodass wir in den digitalen Raum ausweichen mussten (Die Agave haben wir mitgenommen und zu unserer Galionsfigur gemacht). Dort aber verwandelte sich der Salon in ein Magazin, was die Formgenese des Salons logisch fortschrieb: Vom Vortrag übers Musikspiel zur Duftvorführung hatte es stets eine Erweiterung des sinnlichen Feldes gegeben. Nun erfolgt der nächste, optische Schritt: Die Verfestigung der Gedanken zu Schrift und Bild, vom Geräusch zum Text, von der konkreten Anwesenheit zum abstrakten Gang in den digitalen Raum, von der Diskussionshitze zur Cyberkühle. Salon und Agave haben sich entäußert.

Der flüchtigere Blog ist noch ein Übergang vom fluiden Salon zum PDF-gewordenen Essay mit Bild; er kann an die alten Salonprotokolle anschließen. Das Agave-Magazin hingegen ist bereits der aufgehobene Salon, der in den Obergrund gegangen ist. Das geheime Leipzig ist jetzt überall.

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